„Perspektiven nachhaltiger Mobilität“ – unter diesem Motto ist das Stuttgarter ÖPNV-Forum gestanden, das der Verkehrs- und Tarifverbund Stuttgart bereits seit 2010 organisiert. Diskutiert wurde unter anderem über das Modell „Mieterticket“, Künstliche Intelligenz im ÖPNV und das Mobilitätskonzept zur UEFA EURO 2024. Aber auch das einjährige Jubiläum des beliebten Deutschland-Tickets war natürlich Thema.
Im Rahmen der Veranstaltungsreihe bietet der VVS führenden Experten, Entscheidungsträgern und Interessenvertretern eine Plattform, um wichtige Herausforderungen, Chancen und Innovationen im Bereich des Öffentlichen Nahverkehrs vorzustellen und gemeinsam zu diskutieren. Das Branchenformat kommt an: rund 100 Verkehrsexperten aus Baden-Württemberg sind der Einladung des Stuttgarter Verkehrsverbunds in diesem Jahr gefolgt.
Minister Hermann: Die Hochleistungskorridore zu sanieren, reicht nicht – auch in der Fläche braucht es Verbesserungen
Im Rahmen des Forums sprach der Baden-Württembergische Verkehrsminister Winfried Hermann bei einem Pressetermin über die Qualität im Nahverkehr. Mit Blick auf die dringend notwendige Verkehrswende stellte Verkehrsminister Winfried Hermann fest: „Nur wenn die Züge pünktlich und zuverlässig fahren, werden wir die Menschen zum Umsteigen bewegen. Wir haben derzeit leider ein Qualitätsproblem auf der Schiene – auch im Öffentlichen Schienenpersonennahverkehr. Ausfälle und Verspätungen verärgern die Fahrgäste. Das muss wieder besser werden.“ Die Betreiber der SPNV-Infrastruktur seien hier nicht allein in der Pflicht, sondern maßgeblich auch die Verkehrsunternehmen. „Wir als Aufgabenträger tun das Mögliche. Im vergangenen Jahr haben wir eine Qualitätsoffensive gestartet. Zudem haben wir ein breites Bündnis aufgebaut, mit dem wir dem Fachkräftemangel im ÖPNV entgegenwirken wollen. Doch bei allen Fortschritten bleibt die SPNV-Infrastruktur ein kritischer Punkt: Es reicht bei weitem nicht aus, die Schieneninfrastruktur auf den Hochleistungskorridoren zu sanieren – auch in der Fläche braucht es deutliche Verbesserungen.“
VVS-Geschäftsführerin Cornelia Christian ergänzte die Ausführungen des Ministers, wie die Verbundlandkreise in der Region für Qualität im Busverkehr sorgen: „Unseren Landkreisen im Verbund liegt die Qualität ihres Busverkehrs am Herzen. Deshalb haben sie unter Mitwirkung des VVS die Standards 2.0 entwickelt, die für eine einheitliche Qualität bei den Busverkehren im VVS sorgen, die von den Landkreisen vergebenen werden“, sagte Christian.
Gegenüber der ersten Vergaberunde bieten die Standards 2.0 folgende Neuerungen und Qualitätsverbesserungen:
- Verbindliche Vorgabe von Wartezeiten zur Anschlusssicherung
- Verbundeinheitliches Busdesign inklusive Werbefreiheit des Busses (mit Ausnahme des Hecks)
- Ausstattung der Busse mit WLAN und USB-Ladebuchsen
Elektrische Rampen statt Klapprampen für den barrierefreien Zugang an der zweiten Bustür - Mindestens sechs podestfrei erreichbare Sitzplätze
- Taktile Markierung senkrechter Haltestangen im Ausstiegsbereich
- Vorgaben zur Beeinflussung von Lichtsignalanlagen
Welche Verkehrsthemen kommen aus Europa?
Ulrich Weber, Geschäftsführer des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen Baden-Württemberg (VDV), informierte bei der ganztägigen Veranstaltung darüber, welche aktuellen Themen auf Europa-Ebene geplant sind. So sieht die EU-Strategie für eine nachhaltige und intelligente Mobilität vor, dass der Linienverkehr für Strecken von unter 500 Kilometern bis 2030 klimaneutral sein soll. Ulrich Weber, der auch Mitglied im Europäischen Ausschuss des Internationalen Verbands für Öffentlichen Nahverkehrs (UITP) ist, formulierte zudem zehn Kernforderungen des VDV an die EU. So forderte er unter anderem, dass Maßgaben für mehr Klimaschutz in der Umsetzung praktikabel und finanzierbar bleiben. Für die Umstellung der Flotten auf alternative Antriebe, wie sie in der EU-Strategie verankert ist, sei außerdem ein EU-Förderprogramm nötig, das im mehrjährigen Finanzrahmen der EU eingeplant werden müsse.
Mieterticket: Kooperation mit Wohnungsunternehmen
VVS-Geschäftsführerin Cornelia Christian referierte in ihrem Vortrag über das Modell des Mietertickets. Mietertickets können rabattierte oder kostenlose Abonnements für den Nahverkehr auf der Basis des Deutschland-Tickets sein. „Wir laden die Wohnungsunternehmen, aber auch die Politik im VVS-Gebiet ein, mit uns attraktive Mietertickets zu entwickeln. Die Immobilienbranche trifft die Mobilitätsbranche. Ziel ist es Mieterinnen und Mietern ein vergünstigtes VVS-Abo im Rahmen des Mietvertrags zur Verfügung zu stellen und damit einen wichtigen Beitrag für eine nachhaltige Mobilität zu leisten“, so Cornelia Christian. Der Vorteil für die Mieter liege auf der Hand, für Wohngesellschaften könne das Mieterticket einen wettbewerblichen Vorteil bieten: „Eine Wohnung kann durch ein integriertes Mobilitätsangebot aufgewertet werden. Ein solches Ticket ist außerdem deutlich günstiger als der Bau eines Stellplatzes. Die Einsparungen durch den Wegfall von Stellplätzen könnten teilweise an Mieter weitergegeben werden“, führte die VVS-Geschäftsführerin die Vorzüge auf. Erste Projekte für Mieter zum einfacheren ÖPNV-Zugang dazu wurden in Bielefeld entwickelt und in Regensburg fortgeführt. Ergebnisse einer Umfrage aus Bielefeld klingen für ein solidarfinanziertes Ticket vielversprechend: So überlegt en beispielsweise 50 Prozent der Mieter, das eigene Auto abzuschaffen.
Mobilitätskonzept zur UEFA EURO 2024
Thomas Knöller, Leiter der Abteilung Planung beim VVS, skizzierte im Haus der Architekten den Planungsstand zum Mobilitätskonzept für die EURO 2024. An den fünf Spieltagen in Stuttgart werden mehr als 300.000 Besucher erwartet, im Stadion und den Fan-Zonen in der Innenstadt. Gegenüber „normalen“ Fußballspielen rechne man mit einem deutlich höheren ÖPNV-Anteil, der bis zu 80 Prozent betragen könne. Der VVS und seine Verkehrsunternehmen spielen als Partner bei den Planungen zur Mobilität eine wichtige Rolle und werden zusammen mit weiteren Akteuren dafür sorgen, dass Menschen in der Region während des Fußballsommers gut bewegt werden. Die Verkehrsunternehmen rüsten sich dafür, Takte und Betriebszeiten teilweise auszuweiten sowie längere Züge einzusetzen. So fahren beispielsweise alle S-Bahn-Linien nach den Spieltagen die ganze Nacht im Stundentakt. Ein weiteres Schmankerl für Besucher: die Geltungsdauer des VVS-KombiTickets wurde auf 36 Stunden erweitert. Fußballfans fahren so ohne Zeitdruck kostenlos zu den Spielen und auch wieder zurück.
Weitere Themen waren: Herausforderungen in der barrierefreien Mobilität, zukünftige Mobilität junger Menschen oder Konzepte für mehr nachhaltige Mobilität aus Sicht der Wissenschaft
Bei den weiteren Fachvorträgen ging es um Künstlicher Intelligenz (KI) im ÖPNV. Philipp Tabasaran vom VVS berichtete über mögliche Einsatzgebiete von KI beim VVS sowie deren Chancen und Risiken. Einer der Anwendungsfälle könnte bei der Beantwortung von Kundenanfragen unterstützen, zum Beispiel in Form von Chatbots oder Speech-to-Text-Übersetzungen zum Abbau von Sprachbarrieren. Außerdem referierte Simone Fischer als Beauftragte der Landesregierung Baden-Württemberg für die Belange von Menschen mit Behinderungen über die Bedürfnisse und Herausforderungen einer barrierefreien Mobilität. Sie sagte: „Mobilität ist die Grundlage von Teilhabe. Nur ein barrierefreier ÖPNV ist ein nachhaltiger ÖPNV. Hier müssen wir weiter vorankommen, dass alle Menschen gute Bedingungen vorfinden.“ Max Buchholz, der als Fahrgastbeirat des VVS die Interessen der Fahrgäste vertritt, stellte dar, wie sich Jugendliche den ÖPNV von morgen vorstellen. Als wichtige Entwicklung nannte er den Start des Deutschland-Ticket JugendBW, das für eine einfache und günstige Mobilität bei jungen Menschen sorgt. Buchholz kritisiert jedoch, dass das Ticket Studierende über 27 Jahre nicht berücksichtigt.
Im Vortrag von Prof. Dr. Wolfgang Gruel, der Professor für intelligente Mobilitätskonzepte an der Hochschule Esslingen ist, ging es um Mobilitätskonzepte und Ideen, die für einen Umstieg wichtig sind. „Qualität und ein guter Preis alleine reichen nicht aus – wir brauchen Wow-Effekte, um Menschen vom ÖPNV zu begeistern!", so Wolfgang Gruel.
Das Stuttgarter ÖPNV-Forum hat eine lange Tradition. Seit 14 Jahren findet das Forum unter Regie des VVS im Haus der Architekten statt. Die meist schnell ausgebuchte Veranstaltung genießt bei Verkehrsexperten einen exzellenten Ruf – jedes Jahr tragen hochrangige Referenten zu einem erstklassigen Austausch über aktuelle Themen bei.
(nik)